Stefan Grass
Leiter des Komitees Olympia-kritisches Graubünden
2019: Kaum jemand möchte noch Olympische Winterspiele. Das liegt auch an einem harten Gegner aus der Schweiz.
2018: Seit den Olympischen Winterspielen in Turin 2006 zeigt sich die fehlende Sinnhaftigkeit von solchen Sportgrossveranstaltungen im Alpenraum. Stefan Grass, Leiter des Komitees Olympiakritisches Graubünden, der seit 18 Jahren die Kandidaturen für Olympische Winterspiele in Graubünden für 2010, 2014, 2022 und 2026 erfolgreich bekämpfte, zieht Bilanz.
2018: Stefan Grass hat die Kandidatur für Olympische Spiele in Graubünden gebodigt. Jetzt soll er Sion 2026 verhindern.
Mauspfeil auf dem Titel zeigt Medium, Datum und Lead:
03.11.2018
Das Internationale Olympische Komitee hat massive Probleme, Ausrichter zu finden. Es kursiert ein Vorschlag für eine radikale Alternative. (NZZ am Sonntag)
Von Sebastian Bräuer
Im Oktober reiste Andrew Zimbalist zu einer Veranstaltung des Internationalen Olympischen Komitees (IOK) in Buenos Aires, setzte sich auf die Bühne und forderte eine sportpolitische Revolution. Der amerikanische Ökonom schleuderte seinen überraschten Zuhörern entgegen, es sei nicht mehr zeitgemäss, die Spiele alle vier Jahre an einem neuen Ort auszutragen. Das sei ein Relikt von 1896, als die Olympischen Spiele der Neuzeit eingeführt wurden.
Damals habe es keinen Flugverkehr gegeben und kein globales Kommunikationsnetzwerk, was die Rotation notwendig gemacht habe, um den olympischen Gedanken mit der Welt zu teilen. Heute sei es nicht nur ökonomisch unsinnig, ständig Milliardenbeträge für neue Infrastrukturen auszugeben, sondern auch ökologisch unverantwortlich, sagt Zimbalist. «Was das IOK macht, wirkt politisch und sozial destabilisierend.»
Schwerste Krise der Geschichte
Der Wirtschaftsprofessor, der am Smith College im Gliedstaat Massachusetts unterrichtet, rechnete mit harschen Reaktionen. «Wer im IOK sitzt, ist dank den regelmässigen Vergaben der Spiele ein begehrter Mensch», sagt Zimbalist. «Er wird von Bewerberstädten eingeladen und hofiert. Es gibt für ihn also keinerlei Anreiz, den Vergabeprozess abzuschaffen.» Aber die harschen Reaktionen blieben in Buenos Aires aus. Zimbalist stellte verblüfft fest: «Die Damen und Herren haben mir interessiert zugehört.»
Das IOK befindet sich in der bisher schwersten Krise seiner Geschichte, was grossen Raum für Gedankenspiele schafft. Immer weniger Städte sind bereit, sich als Austräger zu bewerben. Das hat mit dem schlechten Image der Spiele nach Korruptionsfällen und Dopingskandalen zu tun, aber vor allem mit den Kostenexplosionen bei vergangenen Austragungen.
Das IOK gibt zwar den grössten Teil seiner immer noch zunehmenden Einnahmen weiter, die dank der Vergabe von Fernseh- und Lizenzrechten, Sponsoren sowie dem Verkauf von Tickets und Lizenzrechten entstehen. Aber die Kosten, die an den Ausrichtern hängenbleiben, steigen noch schneller, weil die Zahl der Wettbewerbe zunimmt, weil die Anforderungen an die Sportstätten steigen und weil es immer schwerer wird, Sportler und Fans vor Anschlägen zu schützen.
Schon bei der Vergabe der Sommerspiele 2024 drohte ein Desaster. Boston zog seine Kandidatur nach Bürgerprotesten zurück, und der Bürgermeister Marty Walsh rief dem brüskierten IOK hinterher, er werde die Zukunft der Stadt nicht aufs Spiel setzen. Hamburgs Bewerbung scheiterte an einem Referendum, auch dort ging es vor allem ums Geld. Budapest und Rom gaben ebenfalls auf. Am Ende war das IOK froh, dass Paris und Los Angeles ihre Bewerbungen aufrechterhielten, und vergab die nächsten Spiele ohne Abstimmung an beide: 2024 kommt Frankreichs Hauptstadt zum Zug, 2028 die US-Metropole.
Der Vergabeprozess für die Winterspiele 2026 entwickelt sich jetzt noch blamabler. Derzeit befinden sich noch drei Kandidaten im Rennen: Calgary, Stockholm sowie Mailand mit Cortina d’Ampezzo. Aber es wirkt zunehmend unwahrscheinlich, dass sie bis zur geplanten Abstimmung im Juni 2019 durchhalten.
Erst nach einem Ultimatum von Calgarys Bürgermeister Naheed Nenshi einigten sich diese Woche Provinz- und Landesregierung auf einen vorläufigen Kompromiss bei der Finanzierung. Die nächste, noch höhere Hürde ist ein Referendum am 13. November. In Stockholm hat sich gerade der neu gebildete Stadtrat gegen die Bewerbung ausgesprochen. Und in Italien stellt sich das grundsätzliche Problem, dass die hochverschuldete Landesregierung eigentlich nicht über die Mittel für ein neues Milliardenprojekt verfügt.
«Ich hoffe, dass wir am Ende noch einen Kandidaten haben», sagt das Schweizer IOK-Ehrenmitglied Gian Franco Kasper. Die Bewerbungen aus seiner Heimat Graubünden und aus dem Wallis sind längst am Stimmvolk gescheitert. Kasper berichtet von Erwägungen im IOK, mangels Alternativen erneut auf Salt Lake City zurückzugreifen, den Ausrichter von 2002. Über die neuerdings kolportierten Bemühungen Argentiniens, eine Bewerbung nachzureichen, lacht er nur.
Irgendeine Notlösung dürfte sich finden lassen. Aber nicht nur externe Kritiker fordern ein Ende des Durchwurstelns. «Ich habe vor jedem neuen Referendum Angst», sagt Kasper. Er glaube nicht, dass die olympische Bewegung, die grösste Erfolgsgeschichte im Weltsport, ihren Zenit überschritten habe. Aber irgendwann könne dieser erreicht sein. «Die Spiele dürfen nicht immer grösser und teurer werden. Das IOK muss sich wieder vom Gigantismus verabschieden.» Es gelte, die Zahl der Wettbewerbe einzufrieren.
Perfekt: Los Angeles
Die Rotation abzuschaffen, lehnt Kasper nicht rundheraus ab, aber er ist skeptisch. Über den Vorschlag sei im IOK bereits intensiv diskutiert worden, sagt er. «Es wäre nicht viel billiger, denn die Sportstätten müssten dennoch laufend renoviert werden.» Dann kommt der Bündner bereits zu den Details: Es wäre unklar, wie das olympische Dorf in den Zwischenperioden genutzt werden könnte. Und es müsste sich eine Gastgeberstadt finden, die sich nicht nur einmal, sondern alle vier Jahre mit Verkehrsbehinderungen und Sicherheitsmassnahmen arrangiert.
Zimbalist sagt, die ideale Stadt für die permanente Austragung der Sommerspiele wäre Los Angeles. Die US-Stadt besitze als Heimat zahlreicher Profi-Teams eine Fülle moderner Stadien. Man könnte die Wohnheime der Universitäten, die in den Semesterferien ohnehin leer stünden, zu olympischen Dörfern umfunktionieren.
Der öffentliche Nahverkehr werde unabhängig von den Spielen modernisiert, und bei der Finanzierung der Sicherheitsmassnahmen könne Los Angeles auf die Bundesregierung in Washington vertrauen. Der Ökonom sagt: «Olympia ist zu einem Architektenwettbewerb verkommen. Das IOK sollte dafür sorgen, dass wieder der Sport im Mittelpunkt steht.»
03.11.2018. Argentinien erwägt, sich für die Olympischen Winterspiele 2026 zu bewerben. Warum eigentlich nicht? Ist doch weltmarktlogisch! (TAZ)
KOLUMNE VON MARTIN KRAUSS
Alle reden vom Wetter, sogar Thomas Bach. „Traditionelle Wintersportländer“ sollten bei der Vergabe künftiger Olympischer Winterspiele bevorzugt werden, hat IOC-Präsident einmal gesagt. Das ist schon deswegen interessant, weil nicht einmal der oberste Chef des Ladens zu wissen scheint, dass Spiele an Städte vergeben werden, nicht an Staaten.
Nun hat gerade Buenos Aires angekündigt, eine Bewerbung zu prüfen. Dort hat es zwar im Jahr 2007 nach 89 Jahren zum ersten Mal geschneit, aber zum einen sollen in Argentiniens Hauptstadt ja nur die Eissportwettbewerbe stattfinden; für die Disziplinen, in denen es halbwegs sicheren Schnee braucht, ist Ushuaia vorgesehen – ein Wintersportort im südlichsten Zipfel Argentiniens.
Zum anderen: Wenn die nächsten Winterspiele 2022 in Peking stattfinden, wenn sie vor vier Jahren im Badeort Sotschi waren, wenn sie ebenfalls schon in Turin stattfanden und sich bekanntlich München um die Ausrichtung 2018 bemüht hatte: Warum eigentlich nicht Buenos Aires?
Olympische Spiele, sommers wie winters, sind Megasportevents, mit denen Milliarden Euro Umsatz gemacht wird. Nicht zu Unrecht wird Gigantisches gerne mit dem Begriff, es habe „olympische Ausmaße“ umschrieben.
Keine Spleenigkeit, sondern Größenwahn
Genau deswegen gibt es gute Gründe, gegen die Ausrichtung Olympischer Spiele zu sein. Sie haben nämlich etwas mit Weltmarkt, mit Kapitalisierung, mit Gigantismus zu tun. Dass solche Events plötzlich sozial- und umweltverträglicher wären, wenn sie in kleineren Alpen- und anderen Gebirgsgegenden stattfänden, ist ein saublödes Gerücht. In Wahrheit ist es ja andersherum: Wenn die Olympischen Spiele erst einmal Bergdörfer heimgesucht haben, sind diese für Jahrzehnte geschädigt.
Dass Buenos Aires überlegt, sich zu bewerben, hat nichts mit Spleenigkeit zu tun, schon eher mit Größenwahn. Aber eben nicht dem der Stadtpolitiker, sondern dem strukturellen Wahn des Olympismus: Höher, schneller, weiter. Das ist das Motto, das die Globalisierung verkündet; ein Zusatz „aber nur in traditionellen Wintersportländern“ passt nicht zu diesem Motto.
Argentinische Winterolympiapläne entspringen exakt der gleichen Logik, die auch in Peking, München oder Sotschi angewandt wird. Man schielt auf den Weltmarkt, auf dem mit solchen Megaevents Geld verdient wird. Es ist zudem kein Zufall, dass es gerade Großstädte sind, die in kein Alpental passen, die sich um Winterspiele bemühen, denn die haben wenigstens ansatzweise die Infrastruktur für solche Events.
Gegner tun nur so, als sei ihnen das Klima wichtig
Dieser Weltmarkt ist ja auch dabei, seine sehr eigene Antwort auf Klimawandel, Erderwärmung und Gletscherschmelze zu geben: Die „All Weather Snowmaker“-Maschine produziert Schnee bei jeder Umgebungstemperatur, auch im Sommer. Entwickelt wurde der Snowmaker von einer israelischen Firma mit Sitz nahe dem Mittelmeer, die ihre ersten Tests in Südafrika in der Nähe von Johannesburg durchführte.
Wer will da noch von „traditionellen Wintersportländern“ reden? Abgesehen davon, dass es tatsächlich im nördlichen Israel, im Hermongebirge, und im Grenzgebiet von Südafrika und Lesotho, in den Maloti-Bergen, Skigebiete gibt. Die Rede von den „traditionellen Wintersportländern“, die man mit Europa assoziiert, ist im Zeitalter der Globalisierung nichts anderes als Pfründesicherung.
Es bleibt dabei: Wer gegen Olympische Spiele ist, kann gute Argumente vortragen. Wer aber sagt, solche Events gehörten nicht nach Amerika oder Asien, sondern nur in Orte, die man mit dem Begriff „traditioneller Wintersport“ verbindet, der tut nur so, als denke er ans Klima. Alle reden vom Wetter. Wir nicht.