Stefan Grass
Leiter des Komitees Olympia-kritisches Graubünden
2019: Kaum jemand möchte noch Olympische Winterspiele. Das liegt auch an einem harten Gegner aus der Schweiz.
2018: Seit den Olympischen Winterspielen in Turin 2006 zeigt sich die fehlende Sinnhaftigkeit von solchen Sportgrossveranstaltungen im Alpenraum. Stefan Grass, Leiter des Komitees Olympiakritisches Graubünden, der seit 18 Jahren die Kandidaturen für Olympische Winterspiele in Graubünden für 2010, 2014, 2022 und 2026 erfolgreich bekämpfte, zieht Bilanz.
2018: Stefan Grass hat die Kandidatur für Olympische Spiele in Graubünden gebodigt. Jetzt soll er Sion 2026 verhindern.
Mauspfeil auf dem Titel zeigt Medium, Datum und Lead:
02.12.2023
Alles sollte anders sein. Keine Retortendörfer, kein Gigantismus, verschiedene Bundesräte statt ein einziger Potentat bei der Eröffnungsfeier. Die Schweizer Kandidatur für die Olympischen Winterspiele im Jahr 2030 hätte ein Prototyp werden sollen. Das perfekte Konzept für eine grüne Zukunft. Das Internationale Olympische Komitee (IOK) wolle jetzt nachhaltige Spiele. Dezentral, budgetsensibel, basisdemokratisch – es fehlte nur noch das Schweizerkreuz im roten olympischen Ring. (NZZ)
Von David Biner und Samuel Tanner
So – oder so ähnlich – erzählte es jedenfalls Urs Lehmann, der Präsident von Swiss Ski, nachdem er sich im Frühling mit IOK-Vertretern getroffen hatte. Gar nicht euphorisch sei er dagesessen, berichtete er. «Aber je länger die Diskussion dort ging, desto überzeugter war ich davon, dass es machbar ist.» Lehmann war es wichtig zu betonen, dass das Projekt von der Basis getragen wird.
Politiker aus den Standortkantonen hielt man an, sich vorerst in der Öffentlichkeit zurückzuhalten. Man wollte keine «Verpolitisierung» des geplanten Sportanlasses. Als das Schweizer Sportparlament die Kandidatur einstimmig durchwinkte, war Lehmann den Tränen nahe. Mit seiner Leidenschaft wurde er das Gesicht einer Bewegung, von der nie ganz klar wurde, wie gross sie eigentlich ist.
Nur wenige Tage später entschied das IOK, dass nun doch alles so bleiben soll wie immer. Das von der Schweiz eingereichte Dossier wurde vor der Weltöffentlichkeit zerrissen. Bemängelt wurde vor allem der eigentlich gewollte Mangel. Die Schweizer Bewerbung war dem IOK zu dezentral, zu unglamourös, zu wenig zentralstaatlich – zu schweizerisch?
Ausgerechnet die Franzosen machten das Rennen. Präsident Emmanuel Macron hatte jüngst weitreichende Staatsgarantien in Aussicht gestellt. Im Gegensatz zur Schweiz hat die Grande Nation grosse Pläne: Sommerspiele 2024 in Paris, 2030 dann die Winterspiele in den Regionen Rhône-Alpes und Côte d’Azur.
Es ist jetzt alles wie immer, wenn sich die Schweiz für Olympische Spiele bewerben will: Meistens will die Bevölkerung nicht. Und wenn die Bevölkerung (laut Umfragen) wollen würde, will das Internationale Olympische Komitee nicht.
Das Trauma von Sitten
Immer in diesem Moment, wenn die Schweiz wieder keine Olympischen Spiele ausrichten kann, tritt alt Bundesrat Adolf Ogi aus den Kulissen hervor. In diesen Tagen spricht er von einem «Todesstoss»: «Jetzt hatten wir einen positiven Drive. Das ist alles weg.» Ogi ist der Schmerzensmann der schweizerischen olympischen Bewegung, er, der frühere Direktor des Skiverbands, der Sportminister und «Sonderberater für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden» bei der Uno – er scheint fast zu verzweifeln. Im «Tages-Anzeiger» sagte er am Donnerstag, er habe den Eindruck, «dass das IOK den Respekt gegenüber der Schweiz verloren hat».
Adolf Ogi ist die Konstante in diesem unkonstanten Missverhältnis zwischen der Schweiz und der olympischen Welt. Er spricht jetzt von einem «Schlag ins Gesicht».
Und schon am 19. Juni 1999 sprach er von einem «Chlapf a Gring». An dem Tag, als in Seoul die Olympischen Spiele 2006 vergeben wurden, schlug der damalige Bundesrat Adolf Ogi die Hände über dem Gesicht zusammen. Die Schweiz hatte mit Sitten kandidiert und fest mit einer Zusage gerechnet. Auf der Place de la Planta hatten sich am frühen Morgen fünfzehntausend Leute vor einer Grossleinwand versammelt – nach der Absage aus Seoul flogen Bierflaschen, der Skifahrer Didier Plaschy rief ins Mikrofon: «Verdammte Schweinerei!», und am Hauptsitz der Sittener Kandidatur hingen die Fahnen tagelang auf halbmast. In Seoul weinte die Skifahrerin Maria Walliser.
Die Schweiz sollte in eine jahrzehntelange «tristesse olympique» verfallen. Der Kanton Graubünden stimmte gleich zweifach gegen eine Olympiakandidatur (unter argumentativer Federführung des damaligen SP-Grossrats Jon Pult). Nach einem Nein im Winter 2013 folgte nur vier Jahre später, während der Ski-Weltmeisterschaften von St. Moritz, die nächste Abstimmung – langsam verloren alle ihre Geduld. Hanspeter Lebrument, Verleger von Bündner Zeitungen und Fan von Olympia, sagte zur Kritik von Pult, dem müsse er «e paar hindere haue». Gründe gegen Olympia gebe es keine, sagte Lebrument. Aber am Ende lehnte der Kanton eine Kandidatur wieder ab. Dass selbst St. Moritz, seit den Spielen von 1928 und 1948 das einzige Olympiadorf im Land, neue Olympische Spiele ablehnte, kommentierte Gian Franco Kasper, der Präsident des internationalen Skiverbands, als «nicht akzeptabel».
Die Beziehung zwischen der Schweiz und Olympia ist eine ewige Variation der fünf Trauerphasen: Verleugnung, Wut, Depression, Akzeptanz – und neues Verhandeln.
Im Jahr 2018 lehnte erneut die Walliser Stimmbevölkerung eine Olympiakandidatur ab – Sion 2026 statt Sion 2006 hiess die Vision, aber die alte Tristesse war immer noch da. Die Schweiz lehnt internationale Festspiele seit Jahrzehnten ab – auch eine nationale Expo kam in keiner Abstimmung durch. «Es ist uns leider nicht gelungen . . .», begann Jürg Stahl, der Präsident von Swiss Olympic, seine Erklärungen zu Nicht-Sion 2026.
Schweizerischer Not-Optimismus
Jetzt, nachdem die Absage nicht aus der Schweiz, sondern vom Internationalen Olympischen Komitee gekommen ist, spricht Jürg Stahl wieder in Mikrofone. Die fortschreitende Verzweiflung hat inzwischen eine Art Not-Optimismus geboren: «Wir sind überzeugt, dass wir im Hinblick auf 2038 ein hervorragender Partner für das IOK sein können», sagte Stahl. Urs Lehmann, der Präsident des Skiverbands, sagte: «So nahe sind wir den Olympischen Spielen schon lange nicht mehr gewesen.»
Noch im September traf Urs Lehmann für ein Interview mit der NZZ auf Aline Trede, die Nationalrätin und Sportpolitikerin der Grünen. Er war noch voller Hoffnung, sie zweifelte. Irgendwann sagte sie: «Urs, jetzt sag mir, warum es dieses Mal anders sein wird?»
Am Ende ist alles wie immer.